16

»Bitte, die Störung zu verzeihen«, sagte Vlad mit einer Verbeugung des Kopfes. »Könntet ihr ein paar Minuten für mich erübrigen?«

Mit ihm ging es den sprichwörtlichen Bach runter, warum also seinen alten Erzfeind nicht an dem Schauspiel teilhaben lassen? Als Justin aber Vlad ansah, bemerkte er keinerlei Hass und keine Spur von Schadenfreude. Gut, letztere würde sich später einstellen, aber mittlerweile war ihm sowieso alles egal.

Den anderen hingegen nicht.

»Vlad Tepes!« Kit sprang auf. »Was will der denn?«

»Schnellstmöglich die Fliege machen, dazu würde ich ihm raten«, sagte Tom.

Justin brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Lasst ihn doch, es geht doch nur um ein paar Minuten. Und außerdem, was soll schon jetzt noch passieren?« Justin sah zu Kit, der breitbeinig in Kampfposition dastand. »Du bist der Hausherr, Kit. Kann er hereinkommen?«

»Fünf Minuten«, erwiderte Kit, ohne auch nur einen Millimeter von seiner Position abzurücken.

Vlad trat ein. »Es reichen schon drei.« Er nickte Kit und Tom kurz zu, ehe er sich an Justin wandte. »Dr. Corvus, eine Entschuldigung zu diesem Zeitpunkt ist sinnlos und banal, aber ich entschuldige mich trotzdem. Bei allen Missstimmigkeiten und Rivalitäten zwischen uns hätte ich dir doch niemals eine Katastrophe dieses Ausmaßes an den Hals gewünscht. Dass ich die Lawine losgetreten habe, beschämt mich zutiefst. Meine Unkenntnis eurer Gesetze bringt mich in Verlegenheit und bedeutet für dich eine Tragödie. Wenn ich könnte, würde ich die Sache ungeschehen machen, aber die Gültigkeit eurer Gesetze ist offenbar so unerschütterlich wie eure Führerin unnachgiebig.«

»Da der Ausgang unweigerlich feststeht, bleibt mir nur folgendes Angebot. Es ist ein schwacher Ersatz und wiegt deinen Verlust keinesfalls auf, aber ich biete dir an, auf unbefristete Zeit, wo und wann auch immer, vom Schutz und den Diensten meiner Kolonie Gebrauch zu machen.«

Sie waren platt, denn damit hatte niemand gerechnet! Justin spürte, dass die anderen starr vor Staunen waren, hatte aber volles Verständnis dafür. Ihm ging es nicht anders.

Vlad beehrte sie darauf mit einer besonders tiefen Verbeugung. Als er wieder hochkam, äugte er zu Kit. »Etwas weniger als drei Minuten, nehme ich mal an, und länger will ich deinen guten Willen auch gar nicht strapazieren. Es dämmert bald. Auf Wiedersehen.«

»Bei Abel!«, sagte Justin, als Vlad auf die noch offen stehende Tür zuschritt. »Vlad!« Als Vlad zurückkam, streckte Justin ihm die Hand entgegen.

Nun war Vlad an der Reihe, zu starren, aber er zögerte kaum eine Sekunde, ehe er Justins Hand ergriff. »Was ich gesagt habe, ist wörtlich zu nehmen«, schob er noch hinterher.

Justin nickte. »Ich weiß.«

Kit ging an ihnen vorbei und knallte die Tür zu. »Komm rein, Vlad, ich hol ein Glas für dich.«

Ein Jahrhundert und mehr ist eine lange Zeit für Feindseligkeiten. Justin, Kit und Tom erhoben das Glas zusammen mit Vlad und tranken auf die Zukunft. Dank einem alten Rivalen hatte er nun wenigstens einen Hauch von Zukunft. Die Trennung von Kit und Tom war nicht aufzuheben, aber das Schicksal des ziel- und heimatlosen Wanderers würde ihm erspart bleiben. Er hatte eine Zuflucht für Stella.

Diese Neuigkeit musste er ihr sofort mitteilen.

* * *

Als Dixie zu Ende erzählt hatte, sank Stella in die Sofakissen zurück und starrte fassungslos ins Leere. »Das ist reinstes Mittelalter!«

»Älter. Der Kodex wurde lange vor dem Mittelalter erstellt.«

»Na, dann ist es ja höchste Zeit für eine Erneuerung! Justin so schlimm zu bestrafen, nur weil er mich verteidigt hat!«

»So wie sie und leider auch Christopher es sehen, warst du bereits tot, und es gab überhaupt keinen Grund mehr für Justin, dich zu verteidigen. Seine Attacke war also ungerechtfertigt.«

Stella wäre am liebsten selbst auf jemanden losgegangen. »Was hätte er denn sonst tun sollen? Wegrennen?«

Dixie strich ihr Haar zurück. »Wenn du so willst, ja. Rache oder Vergeltung ist bei ihnen tabu, und es steht außer Frage, dass du tot warst. Justin hat also aus Rache gehandelt, und die beiden waren immerhin krankenhausreif. Ob das richtig ist und ob ich dem zustimmen könnte, weiß ich nicht, aber Gesetz ist Gesetz.«

Stella zischte verächtlich. »Es ist Unsinn. Erwarten sie etwa Übermenschliches von Justin?«

»Er ist es. Wie wir beide übrigens auch.«

Dem wollte und konnte sie nicht widersprechen. »Aber wir sind gleichzeitig auch menschlich.«

»Wir sind menschlich in unseren Emotionen und übermenschlich in unseren Kräften; das ist eine gefährliche Mischung, die in früheren Zeiten anscheinend schwer missbraucht wurde. Das ist der Grund für den Kodex. Man spricht nicht ohne Grund vom finsteren Mittelalter.«

Diese Zeiten waren beileibe noch nicht vorbei. Sie wurde eben hineingezogen in ein finsteres einundzwanzigstes Jahrhundert.

»Das kann ich einfach nicht akzeptieren. Ich muss etwas unternehmen.«

»Gut. Ich hab mir gedacht, dass du so reagierst.«

»Wir brechen morgen frühzeitig nach Marysville auf, um gleich zu Beginn der Besuchszeit dort zu sein. Dann sind wir rechtzeitig zurück und lassen diese Farce einer Verhandlung platzen!«

* * *

»Bei Abel, wir sind zu spät!« Justin hatte es gleich gespürt, aber das leere Haus war die Bestätigung. »Warum bin ich bloß nicht früher gekommen?«

»Wir sind früh genug dran«, bemerkte Kit. »In den meisten Häusern ist noch niemand auf. Bist du sicher, dass sie nicht schläft?«

Justin schüttelte den Kopf. »Glaub mir, hier ist niemand. Ich würde Sams Herzklopfen hören.«

Verdammt, er hätte Stellas Anwesenheit gespürt. Sie war weg. Geflohen, weil er sie verletzt hatte. Wohin? Und wie um alles in der Welt sollte sie überleben?

Am Abend zuvor hatte er sein Herz kaum mehr gespürt vor Schmerz, nun war es zerrissen und zerstückelt.

»Sieh doch trotzdem erst einmal nach«, sagte Kit. »Nur um sicher zu sein«, fügte er nicht hinzu, aber Justin konnte es in seinem Gesicht lesen. Verdammt, er dachte es ja selbst!

Justin kam über dasselbe offene Badezimmerfenster ins Haus, das er schon einmal – war das erst vor drei Wochen – benutzt hatte. Drei Minuten genügten, und er wusste, dass das Haus leer war. Ihr Bett war unbenutzt; Sam hatte zwar in seinem anscheinend kurz geschlafen, aber die Decke war zurückgeschlagen und kalt, als sei er mitten in der Nacht aufgestanden. Offene Schubläden und verstreut herumliegende Kleider ließen an einen überstürzten Aufbruch denken.

»Ich muss sie finden!«, sagte Justin, neben Kit auf den Verandastufen sitzend. »Wie weit kann sie gekommen sein?«

»Nicht weit«, sagte Kit, »Dixie ist bei ihr.« Justin zuckte zusammen. Er war so auf Stella fixiert gewesen, dass er Dixie komplett vergessen hatte. »Sie würde mich nicht einfach so verlassen, ohne mich vorab zu informieren.«

Justin versuchte sich zu entspannen. Es musste eine Erklärung geben, aber welche?

»Hallo? Sie suchen Stella?« Beide wären sie der alten Frau beinahe entgegengesprungen, die sich über die Veranda des Nachbarhauses beugte. »Sie haben sie vermisst.«

Sinnlos, das noch extra zu betonen. Trotzdem lächelte Justin, gezwungen, aber höflich. Sie war alt, sterblich und … ja, jetzt erinnerte er sich an ihren Namen. »Mrs Zeibel, sie wissen, wer ich bin? Ich wollte zu Stella.«

»Sie ist schon früh weggefahren, zusammen mit dieser Freundin.«

»Zu ihrer Mutter?« Das wäre eine Möglichkeit, aber warum so früh?

Sie beantwortete seine Frage mit einem zögerlichen Nicken und vorsichtigen Blicken unter ihren grauen Augenbrauen hervor. »Sie sind doch dieser junge Mann, der sich Warty und die Day-Jungs vorgeknöpft hat?« Bei Abel, woher wusste sie … »Ich werde das nie vergessen. Die ganze Straße schuldet Ihnen einen Blumenstrauß. Sie haben ständig die Zäune kaputtgemacht und Fenster eingeschmissen, aber das ist jetzt vorbei. Einen größeren Gefallen hätten Sie der Straße nicht tun können.» Sie sprach von jenem Nachmittag, als er ihnen wegen der Bierflaschen eine Lehre erteilt hatte, nicht von den jüngeren Ereignissen.

»Gern geschehen! Aber eigentlich wollte ich zu Stella.«

»Sie sind sehr früh weggefahren. Ich war noch im Bett, als sie anrief, um zu fragen, ob sie Sam zu mir bringen darf. Sie hat ihn im Schlafanzug herübergetragen. Er schläft jetzt auf meinem Sofa.«

Wenn Sam hier war, würde Stella auf alle Fälle zurückkommen. »Kann man nichts machen – dann komm ich wieder, wenn sie zurück ist.« Erleichtert lächelte er Mrs Zeibel in ihrem gesteppten rosa Morgenmantel zu. »Ich bring Ihnen noch die Zeitung.« Er sprang über den Zaun zwischen den beiden Grundstücken, hob die Zeitung vom Weg auf und überreichte sie ihr mit einer schwungvollen Handbewegung und einer Verbeugung, die einem alten Freund von Kit zur Ehre gereicht hätte, Walter Raleigh. Sie lachte laut und ließ alle Welt sehen, dass sie ihre Zahnprothese noch nicht eingesetzt hatte. »Junger Mann, wenn Sie etwas älter wären, würde ich Stella noch Konkurrenz machen.«

»Ich bin älter, als Sie denken, Mrs Zeibel.«

Das fasste sie als Riesenscherz auf. »Jetzt aber, kommen Sie, junger Mann. Ich richte Stella aus, dass Sie hier waren.«

Er wollte gerade zurück über den Zaun springen, als Kit ihm vom Tor aus zurief. »Ich glaube, wir können auch zu Fuß zurücklaufen.« Unterwegs dämmerte Justin langsam, was er angerichtet hatte.

»Kit, ich bin fast wahnsinnig geworden bei dem Gedanken, Stella könnte weggelaufen sein. Dann war ich so erleichtert darüber, dass …« Er schüttelte den Kopf. »Ich muss den Verstand verloren haben. Diese alte Frau …«

Kit kicherte. »Hätte beinahe die Lockenwickler verloren, so sehr war sie aus dem Häuschen. Du bist mir vielleicht einer. Wenn ich dich nicht gebremst hätte …«

»Ich hab überhaupt nicht nachgedacht.«

»So würde ich das auch sehen, aber du bist, wie man heute sagt, total gestresst. Von daher ist das verständlich.«

»Kit, gestresst hab ich mich gefühlt, als ich diese Brigantinen im Nebel aufzuspüren versuchte, oder als ich diesen toten Stadtstreicher gegen deine Leiche austauschte. Das gerade eben war eine zerebrale Kernschmelze.«

»Nur zerebral? Nicht emotional?«, fragte Kit mit der Andeutung eines Lächelns.

»Was glaubst du denn, wo ich meine Emotionen habe, wenn nicht im Gehirn. In den Füßen?«, fragte Justin.

»Letzte Nacht hab ich mich das durchaus mal gefragt.«

Kit konnte sich glücklich schätzen, dass sie in der Öffentlichkeit waren.

Justins Erleichterung währte rund zweihundert Meter. Als sie an der Ruine des ehemaligen Drogenschuppens vorbeikamen, gab ihm das wieder Auftrieb. Das Viertel konnte ihm wirklich dankbar sein, und nicht nur, weil er ihnen ein paar Graffitisprüher und Vandalen vom Hals geschafft hatte, aber manche Dinge verstanden halt nur Wiedergänger. Und das war vielleicht auch gut so. Und es war gut zu wissen, dass Stella in Sicherheit war. Verdammt, es bewahrte ihn davor durchzudrehen. Die Vorstellung, sie wäre weggerannt, hätte ihm das Genick gebrochen, und das kurz vor dem Tribunal. Nun konnte er seinen Richtern in dem Wissen gegenübertreten, dass er die Verantwortung übernehmen und die Konsequenzen tragen musste, aber eben auch in dem Wissen, einen Ort zu haben, an den er sich mit Stella zurückziehen konnte. Sie hatten eine Zukunft.

Mit der Schande der Verbannung aus der eigenen Kolonie würde er zu leben lernen, vorausgesetzt natürlich, Stella wäre überhaupt willens, ihr Leben an der Seite eines Ausgestoßenen zu verbringen.

Als sie in Richtung City Park abbogen, verfinsterte sich seine Stimmung wieder. Er hätte Stella an seiner Seite, vielleicht, aber wie sollten sie in einer unbekannten und fremden Kolonie zurechtkommen? Wie konnte er sie und Sam beschützen, ohne selbst die Regeln zu kennen? Sollte er vielleicht doch ins Exil gehen und die beiden bei Kit und Dixie sicher zurücklassen? Er spürte die nächste zerebrale Kernschmelze nahen.

»Du bist früh dran.«

»Ich weiß, Mom, aber ich hab später noch zu tun in der Stadt.«

»Es gibt also Wichtigeres als den Besuch bei deiner Mutter?«

Stella flehte um Geduld. Nach so langer Zeit im Gefängnis musste man ja schnippisch werden. »Mom, gerade weil mir der Besuch bei dir so wichtig ist, bin ich mitten in der Nacht aufgestanden und zu dir geeilt. Ich wollte dich nicht sitzen lassen.«

»Das will ich hoffen! Du weißt, ich rechne mit dir. Gerade mit dir.«

Hatte sie noch andere Leute, die sie besuchten? Die meisten von Moms Freunden waren entweder selbst im Gefängnis oder wären niemals freiwillig zu einem Besuch bereit. »Verlass dich auf mich, Mom.«

»Gut.« Ihre Mutter zeigte eine Spur Milde. »Du bist ein gutes Mädchen, Stella. Du kommst regelmäßig und passt auf mein Haus auf, ja?«

»Ich tu mein Bestes, Mom.«

»Wer will schon nach der Entlassung direkt ins Obdachlosenheim, ich nicht, ich will nach Hause, zu meinen eigenen Möbeln und meinen Sachen.«

Stella wollte sich nicht länger mit dem Haus befassen, mit seinem undichten Keller und uralten Leitungen. »Ich hab eine neue Stelle, Mom.«

»Was? Du hast in der Reinigung gekündigt?«

»Es hat sich angeboten. Ich arbeite jetzt in einem Laden am oberen Ende der Fifth Street. Die Leute sind nett und die Bedingungen gut. Ich bin dort sehr flexibel, und einen neuen Babysitter bekomme ich auch.«

Mom schwieg eine Minute. »Geht es Sam gut?«

»Ganz gut.«

»Fein. Du hast recht damit, ihn nicht hierherzubringen.« Sie sah zu einer Mutter hinüber, auf deren Schoß zwei kleine Kinder spielten. »Für Kinder ist das nicht der richtige Ort. Ich war oft ungehalten darüber, dass du ihn nicht mitbringst, aber du hast recht.«

»Schon gut, Mom.«

Dann hörte sie stillschweigend den Geschichten ihrer Mutter zu, Tratsch vor allem, und was halt so passiert war im Gefängnis. Stella lächelte gelegentlich und pflichtete ihr gegebenenfalls bei, dachte aber die ganze Zeit nur darüber nach, wie sie am schnellsten verschwinden könnte, ohne sich den Vorwurf einzuhandeln, sie würde nicht lange genug bleiben. Sie war müde und unausgeruht, und sie hatte etwas vor in Columbus.

»… könnte sein, dass Jimmys Bruder vorbeischaut.«

»Wie bitte, Mom? Joe?« Jimmy Holts Bruder, dieser Taugenichts. War der nicht auch im Knast? Sie hätte besser zuhören sollen. »Warum will denn Joe Holt bei mir vorbeischauen?«

»Er braucht einen Schlafplatz, nur für ein paar Tage. Und Platz hast du ja genügend«

Aber nicht für Moms kriminelle Freunde. »Mom, er wird nicht bei mir wohnen, und wenn er auf der Straße schlafen muss, ist mir das auch egal.«

»Es ist immerhin mein Haus.« Moms Augen blitzten.

»Es ist immerhin das Zuhause von meinem Sohn. Ich will nicht, dass ihn Joey Holt mit seinen Knastgeschichten unterhält. Draußen auf der Straße passieren schon genug üble Dinge.« Aber zum Glück nicht mehr ganz so viele, dank Justin und Kit. »Ich werde garantiert niemanden auf meinem Sofa schlafen lassen.«

»Ist ja schon gut.« Mom winkte mit der Hand ab. »Du brauchst dir nicht gleich in die Hosen zu machen. War ja bloß eine Frage.«

»Weiß ich ja, Mom, aber es geht nicht, unmöglich.«

»Manchmal frage ich mich, Stella, ob du überhaupt meine Tochter bist. Die Tugendhaftigkeit in Person. Hältst dich immer an die Spielregeln und machst immer brav, was man dir sagt. Hast du denn niemals Lust auf Spaß und Abenteuer?«

Stella lachte laut auf. In der letzten Woche hatte sie mehr Abenteuer erlebt, als sich ihre Mutter vorstellen konnte. Beinahe war sie versucht, ihrer Mutter in die Augen zu sehen und ihr zu sagen, dass die eigene Tochter vor kurzem eine Vampirin geworden war. Besser nicht.

»Ich vermisse nichts, Mom. Mir geht’s gut.« Vorausgesetzt, ihr würde es gelingen, ihrem Mann aus der Patsche zu helfen. »Ich muss dir noch was sagen, Mom. Ich habe da jemanden kennengelernt …«

»Das ist es also.« Mom meldete sich mit einem süffisanten Gesichtsausdruck wieder zu Wort. »Darauf hätte ich auch selber kommen können. Hab mir gleich gedacht, die Kleine sieht doch ganz anders aus. Du bekommst es also jetzt regelmäßig besorgt, oder? Aber nimm bloß die Pille.«

»Mom!«

»Jetzt tu bloß nicht so. Ich kenn dich doch. Mit Männern konntest du noch nie umgehen. Sieh doch, was mit Sams Dad passiert ist. Hat dich einfach sitzen gelassen. Am Ende passiert genau wieder dasselbe, und du stehst mit zwei kleinen Sammys da, für die du Schuhe kaufen musst.«

»Sei unbesorgt, Mom. Ich werde garantiert nicht schwanger.«

»Hast dich wohl sterilisieren lassen, oder? Ist sowieso besser, wenn du mich fragst.« Stella fragte sie nicht. »Jetzt kapier ich auch, warum Joe nicht bei dir wohnen darf. Männer verstehen in solchen Dingen nun mal keinen Spaß.«

»Schlecht gelaufen, oder?«, fragte Dixie, nachdem sie gut zwanzig Meilen gefahren waren.

»Nicht schlechter als sonst. Wir sind noch nie so richtig klargekommen miteinander, aber sie ist meine Mutter … und …« Stella gab auf. Wie sollte sie ihre gemischten Gefühle ihrer Mutter gegenüber erklären, wenn sie sie selbst nicht verstand.

»Wegen ihr wolltest du nicht mit Justin nach England gehen, stimmt’s?«

»So ungefähr. Mir geht es immer ziemlich schlecht, nachdem ich bei ihr war. Sie ist meine Mutter und zufällig eine verurteilte Verbrecherin – eines von diesen dunklen Familiengeheimnissen, die man gern verschweigt.«

»Kommt vielleicht öfter vor, als du glaubst. Nur werden manche nicht verurteilt.«

Stella nickte. »Könnte was Wahres dran sein. Wie ist eigentlich England so im Großen und Ganzen?« Sicher kein niedriger, endloser Horizont und Maisfelder so weit das Auge reicht.

»Sehr grün, und die Leute reden sehr anders, glauben aber, du selbst hättest einen Akzent.« Dixie nahm den Blick von der Straße. »Du denkst ernsthaft darüber nach, oder?«

»Ja. Darüber und über anderes. War ’ne Menge los in letzter Zeit.«

Dixie lachte. »Eine Menge los! Du hast zu viel mit Christopher und Justin herumgeschäkert. Ich würde sagen, es war der reine Wahnsinn.«

»Das auch! Und langsam wird mir klar, dass ich, wenn heute alles klappt, ewig leben werde.«

»Das ist normal für uns, es sei denn, es passiert etwas ganz Schreckliches. Du musst dir Mühe geben heute Nachmittag.«

»Glaubst du, Justin wird aus der Kolonie verbannt?«

»Wenn sie das Gesetz strikt anwenden, ja. Ob das unfair und ungerecht ist, interessiert keinen.«

»Wenn er rausfliegt, kann er dann nicht einfach hier bleiben?« Das schien naheliegend.

»Hab ich auch gesagt. Es ist nur so«, fuhr Dixie fort, »dass Justin so gut wie überall überleben könnte; er ist alt und ist nicht in dem Maß von seiner Heimaterde abhängig wie du und ich. Du aber kannst ohne sie nicht leben – deshalb wollte er dich auch unbedingt dazu überreden, mit ihm nach England zu gehen.«

»Gut, dann gehen wir nach England, in eine Gegend weit weg von Gwyltha und der Kolonie.«

Dixie schüttelte den Kopf. »Stella, Gwyltha und Großbritannien sind eins. Es gibt kein Außerhalb.«

»Dann soll sie endlich Vernunft annehmen«, sagte Stella wütend.

»Das musst du ihr sagen, Mädchen! Sonst gibt es keine Hoffnung. Justin ist wild entschlossen, sich nicht zu verteidigen und wie ein Gentleman in Würde abzutreten. Irgendjemand muss das Wort erheben und kämpfen.«

»Ich bin bereit.« Sie war tatsächlich bereit, sich nötigenfalls mit dem gesamten Gremium anzulegen.

Für den Rest der Fahrt schwiegen beide. Stella hatte den Eindruck, Dixie würde beten. Sie wusste genau, dass sie es tat.

»Ich werde dich hinten an der Straße aussteigen lassen«, sagte Dixie. »Ich glaube zwar nicht, dass sie den Vordereingang überwachen, aber man weiß ja nie, bei so viel Vampiren unter einem Dach.«

»Wie viele werden es denn sein?« Stella ignorierte das mulmige Gefühl, das sie plötzlich befiel. Sie würde Justin nicht im Stich lassen.

»Wohl an die zwölf, höchstens fünfzehn Leute. Vielleicht aber auch weniger. Könnten auch nur sechs sein.«

Stella versteifte sich auf die sechs. Justin, Kit und Dixie vertraute sie, das waren schon mal drei. Blieben also nur noch weitere drei. Aber so genau ging es nicht. Sie sprach von Vampiren, ihr feindlich gesinnten Vampiren, die dem Mann, den sie liebte, den Garaus machen wollten. Nicht solange sie lebte und atmete! Sie unterdrückte ein Lächeln. Dass sie nicht mehr atmete, war ein Teil des Problems.

»Ich gebe dir zehn Minuten, dann parke ich vorne und komm ganz selbstverständlich rein.«

»Du kannst nicht reinkommen.«

»Und ob.«

»Unmöglich, Dixie. Ich will dich nicht da mit hineinziehen.«

Dixie grinste. »Ich bin schon mittendrin. Du kannst doch niemandem weismachen, du kommst rein zufällig von hinten ins Haus geschneit, um uneingeladen mitten in dieses Tribunal zu platzen.«

Das stimmte. »Trotzdem …«

»Hör mal, ich bin mir sicher, sollte es wirklich ganz schlimm kommen, dass sich Christopher auf Justins Seite schlägt. Und wenn er das macht, mach ich es auch. Damit stecken wir sowieso alle bis zum Hals mittendrin.« Dixie grinste, als sie bremste und von der Third Avenue links abbog. Sie brachte den Wagen zum Stehen. »Steig aus, ich fahr ein paar Mal um den Block herum und komm dann durch den Vordereingang herein.«

»Könntest du kurz nach Sam sehen?«

Dixie schüttelte den Kopf. »Sam ist gut aufgehoben bei Mrs Zeibel. Du hast fünf Minuten.«

Stella war in null Komma nichts über den Zaun. Sie bückte sich und sah sich in dem makellos gepflegten Garten um: winterkahle Blumenbeete, ein frisch gepflasterter Ziegelweg und eine kreisrunde, schmiedeeiserne Bank um einen fast entlaubten Baum. Aber für eine Gartenbesichtigung war jetzt keine Zeit! Sie rannte den Pfad entlang zum Hintereingang und öffnete die Tür mit Dixies Schlüssel.

»Wer ist da noch gekommen?«, fragte eine unbekannte Stimme.

»Ich!«, antwortete Stella und ging mit schnellen Schritten durch das Esszimmer ins Wohnzimmer. Alle, außer den beiden Frauen, erhoben sich, als Stella hereinkam.

»Stella!«, sagten Justin und Kit sofort.

»Was machst du denn hier?«, fragte Justin.

»Wo ist Dixie?«, fragte Kit.

»Sie parkt das Auto«, erwiderte sie, ohne auf die Frage Justins einzugehen.

Sieben, nein acht Vampire standen im Halbkreis. Die Gelegenheit, sie genauer anzusehen, hatte Stella nicht.

»Ist das der neue Frischling?«, fragte jemand. Sonst sagte niemand etwas.

Die Frau war klein von Wuchs, dunkelhaarig und von einer machtvollen Aura umgeben. Sie war alt, sehr alt, Stella spürte das, und sehr schlecht gelaunt. Verdammt aber auch! »Ich bin Stella Schwartz. Sie müssen Gwyltha sein.« Stella wollte ihr die Hand geben, und sah ihr in die Augen.

Darauf traf sie ein harter Strahl wie von einem Wasserwerfer mitten auf die Brust. Sie stolperte, fing sich aber wieder. Was war das, zum Teufel?

»Gwyltha, bitte! Das ist nicht nötig. Sie geht auch so wieder.« Stella drehte sich erstaunt um, als Justin auf sie zukam. Was meinte er? Über welche Kräfte verfügte diese Frau, dass sie jemanden wie mit Geisterhand angreifen konnte?

»Justin«, sagte Stella, die langsam den Schock überwand. »Ich …«

»Ich bitte dich, geh, Stella. Dich geht das hier nichts an. Geh.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nie im Leben!«

»Sie haben hier nichts verloren. Verschwinden Sie! Und zwar sofort«, sagte Gwyltha. Stella beschloss, darauf erst gar nicht einzugehen.

Justin sah sie zornig an. »Jetzt hau schon ab, Stella. Raus hier!«

»Geh, Frischling. Diese Sache geht dich nichts an.« Gwyltha sprach leise, aber mit der Autorität und in dem Bewusstsein, dass es niemand wagen würde, ihr zu widersprechen, was wohl auch nicht besonders klug wäre.

»Ich bleibe hier. Was Justin betrifft, betrifft auch mich.«

»Mitnichten, Stella«, sagte Justin. Er stand direkt neben ihr, hätte sie berühren können, tat es aber nicht. »Du wirst hier nicht gebraucht. Mit dir hat das absolut nichts zu tun.«

Meinte er das wirklich so? Dass er ihre Hilfe und Unterstützung nicht brauchte? Pech gehabt! Er würde sie trotzdem bekommen. »Da habe ich aber andere Sachen gehört!«

»Was willst du denn gehört haben, Frischling?«, fragte Gwyltha.

»Dahinter steckt doch Dixie, oder nicht?«, fragte Kit sichtlich verärgert. »Sie hat dir alles gesagt!«

»Nichts hat sie mir gesagt! Ein paar Einzelheiten konnte ich ihr entlocken, den Rest hab ich mir selber zusammengereimt.« Musste nicht sein, dass sie Dixie auch noch auf dem Kieker hatten.

Gwyltha lachte. »Frischling, ich bezweifle doch sehr, ob irgendein menschliches Wesen, sterblich oder unsterblich, Dixie etwas entlocken konnte, was sie nicht ohnehin gesagt hätte.« Gwyltha waltete weiter ihres Amtes – Richterin und Jury in Personalunion.

Stella straffte die Schultern, um wenigstens mutig zu erscheinen.

»Ich habe erfahren, Justin soll für die Vorgänge von letztem Wochenende zur Verantwortung gezogen werden. Ich war, im Gegensatz zu allen hier Anwesenden, dabei.« Sie sah sich die versteinerten Gesichter der Reihe nach an. »Damit dürfte ich die einzige Augenzeugin sein.«

Gwyltha hob eine Augenbraue. »Angst hast du wohl vor niemandem, Frischling?«

»Würden Sie sich denn einschüchtern lassen, wenn der geliebte Mann in Gefahr ist?« Stella erinnerte sich daran, was Dixie ihr über Gwyltha und Justin erzählt hatte. Von daher war ihr letzter Satz vielleicht nicht besonders klug.

»Justin ist nicht in Gefahr, Frischling«, sagte einer der anderen Vampire. »Er soll Rechenschaft ablegen über seine Handlungen. Deshalb wurde er hierherzitiert.« Der Mann war groß und breitschultrig wie ein Footballverteidiger.

»Und ich habe alles mit eigenen Augen gesehen.«

»Soweit ich weiß, warst du zu diesem Zeitpunkt tot.«

»Bin ich immer noch, wenn wir schon dabei sind, wie übrigens alle hier Versammelten.«

»Stella.« Justin klang alles andere als freundlich. »Zum letzten Mal, würdest du bitte gehen!«

»Glaubst du wirklich, ich verschwinde hier einfach, damit dich die Herrschaften in Ruhe in die Wüste schicken können?«

»Glaubst du wirklich, du könntest uns stoppen, wenn wir das wollten?« Das war wieder der Footballmensch.

»Möglicherweise nicht, aber einfach zusehen dabei werde ich auch nicht.«

»Lasst sie doch bleiben und als Justins Fürsprecherin auftreten.« Das kam von einem kleineren, eher schlanken Mann, der mit seinem abgehärmten und faltigen Gesicht älter wirkte als die meisten anderen.

»Tom …«, begann Gwyltha, aber noch während sie sprach, ging die Haustür auf und Dixie kam herein.

»Hallo alle zusammen«, sagte sie locker, als würde sie jeden Tag auf eine Versammlung von Vampiren in ihrem Wohnzimmer treffen.

Christopher begrüßte seine Gefährtin mit einem zweideutigen Lächeln.

»Du kommst früh zurück, Liebes.«

Dixie ging quer durch den Raum auf ihn zu und küsste ihn. »Ja, Stella hatte noch etwas zu erledigen.«

»Verstehe.«

»Müssen wir mit noch mehr Störungen rechnen?«, fragte Gwyltha.

Kit sah zu Dixie. »Müssen wir?«

»Nicht dass ich wüsste.« Sie wandte sich an Gwyltha. »Du lässt Stella hier bleiben?«

Ein paar Sekunden lang, in denen Gwyltha zuerst Stella, dann Dixie fixierte, herrschte Stille. »Hat sie denn außer Bitten um Gnade etwas beizutragen?«

»Du könntest sie ja fragen«, erwiderte Dixie.

»Das werde ich auch.«

Stella interpretierte das als Zustimmung, dass sie bleiben durfte.

»Machen wir weiter«, fuhr Gwyltha fort. »Wir waren so gut wie fertig, als wir unterbrochen wurden.«

Also waren sie gerade noch rechtzeitig gekommen. Stella sah zu Dixie und bekam ein ermutigendes Lächeln und überraschenderweise ein »Daumen-hoch«-Zeichen von Kit.

Alle nahmen wieder Platz, wobei Justin ihr seinen Stuhl mit einem Blick anbot, bei dem sie am liebsten abgelehnt hätte. Er stand hinter ihr, beide Hände an der Lehne, und Stella spürte die Spannung, unter der er stand. Sie versuchte eine Annäherung an sein Bewusstsein, aber er hatte alle Schotten dicht gemacht. Das tat weh, aber um genauer darüber nachzudenken, fehlte ihr im Moment die Zeit.

»Mach bitte da weiter, wo du stehengeblieben bist, John«, sagte Gwyltha, worauf der Footballmensch aufstand.

»Folgendes steht klar und unumstritten fest: Justin Corvus hat unter Missachtung unserer Gesetze zwei Jugendliche, Sterbliche, in einem Anfall blinder Wut schwer verletzt.« Das klang so, als sei Justin der Angreifer und nicht der Angegriffene! Argumentierte denn niemand dagegen? Stella blickte sich um. Kit schüttelte den Kopf, als sich ihre Blicke trafen. Bedeutete das, sie sollte lieber still sein, oder dass es keine Hoffnung gab? Oder …

»Willst du etwas dazu sagen, Stella?«, fragte Gwyltha von ihrem Thron aus, dem großen, hochlehnigen Ohrensessel.

»Das will ich, ja.« Sie erwartete Justins Einspruch, aber als einzige Reaktion verstärkte er nur seinen Griff an der Stuhllehne.

»Soll das heißen, meine Darstellung ist falsch?«, fragte John.

Schlaumeier. »Nein, sie ist wahr, enthält aber nicht die ganze Wahrheit.« Da niemand versuchte, zu widersprechen, fuhr sie fort. »Johnny Day und Warty Watson sind beide üble Gesellen. Besonders Johnny steht von Kindesbeinen an in Konflikt mit dem Gesetz.«

Gwyltha wandte sich abrupt an Stella. »Willst du etwa sagen, das rechtfertige einen Übergriff auf sie?«

»Natürlich nicht. Ich sage damit lediglich, dass sie keine harmlosen Passanten waren. Johnny war nicht ohne Grund bewaffnet – er wollte uns beide abknallen. Justin hatte er auf dem Kieker, nur weil dieser ihm einmal gehörig die Meinung gesagt hat, nachdem er mein Haus mit Müll bombardiert und mich an Halloween schwer beleidigt hatte. Dabei hat ihm Justin nie auch nur ein Haar gekrümmt.«

Das musste gesagt sein.

»Stattdessen ließ er ihn klein aussehen. Und da Johnny es nicht mag, wenn jemand stärker ist als er, schwor er Rache und besorgte sich diese Knarre. Ich weiß noch genau, wie er gebrüllt und mich Miststück genannt hat, und dann war da dieser Knall und gleich darauf ein dumpfer Schlag gegen meine Brust. Es hat irre wehgetan, und im nächsten Moment wurde alles schwarz, sodass ich nicht weiß, was unmittelbar darauf passierte. Ich weiß nur, dass beide Angreifer verletzt ins Krankenhaus kamen. Mittlerweile sind beide wieder entlassen. Johnny Day hat beide Arme und ein Bein im Gips und wird so schnell wohl keinen Ärger mehr machen können. Außerdem hat er bei seiner Bande an Glaubwürdigkeit verloren. Er prahlte damit, mich erschossen zu haben, dabei bin ich quicklebendig. Und was Warty Watson angeht, der nie so schlimm war wie die Day-Jungs, er hat noch im Krankenhaus nach einem Priester verlangt. Warty ist offenbar der Meinung, er habe den Leibhaftigen gesehen. Der Polizei hatte er gestanden, er habe mich umgebracht, und dann sagten sie ihm, dass ich gar nicht tot bin. Ich habe Warty gestern gesehen.«

Wirklich ein glücklicher Zufall.

»Er ist nicht so schwer verletzt wie anfangs befürchtet, ist aber, wie man sagen könnte, verwirrt. Jedenfalls hat er allem Übel abgeschworen und will in den Himmel kommen. Somit, scheint es, hat die Sache auch noch ihr Gutes.«

»Unterm Strich haben wir also« – Gwylthas dunkle Augen sahen Stella unvermittelt an – »einen Jugendlichen, der seine Verbrecherkarriere bereut, und einen anderen, der schachmatt gesetzt wurde. Interessant. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Justin zwei Sterbliche angegriffen hat.«

»Sterbliche, die mich zuvor erschossen haben!«

»Wir Vampire sind jeglicher Rache abhold!«

Der Himmel gebe ihr Kraft! »Rache war es nicht. Es war ein Affekt. Justin liebt mich.« Hatte sie danach jedenfalls geglaubt. »Ich würde genauso reagieren, wenn jemand Sam was antun würde.«

»Wer ist Sam?«, fragte John.

»Mein Sohn.«

Gwyltha machte ein überraschtes Gesicht. »Du hast ein Kind?«

»Ja, einen neun Jahre alten Jungen.« Ihrem Gesichtsausdruck zufolge war es womöglich verboten sein, als Vampir Kinder zu haben.

»Also, Justin, ich muss sagen, mit halben Sachen gibst du dich offenbar nicht zufrieden.«

»Sam ist mit ein Grund dafür, warum ich Stella verwandelt habe. Ein weiterer Grund, muss ich zugeben, war die Verzweiflung darüber, die Frau, die ich über alles liebe, tot vor mir liegen zu sehen. Darauf ist sicher auch mein Wutanfall zurückzuführen, aber darüber hinaus konnte ich auch Sam nicht schutzlos zurücklassen. Sam braucht sie ebenso sehr, wie ich Stella brauche.«

Stella hatte das Gefühl, abzuheben und zu schweben. Sie wollte Justin um den Hals fallen und ihn küssen, aber sie befanden sich ja mitten in einer Vampirgerichtssitzung.

»Sehr rührend das alles«, sagte John, »aber da Justin verbannt werden wird …«

»Noch ist er nicht verbannt!« Stella sprang auf und ließ ihren Blick kreisen. »Was ist eigentlich los mit euch? Wie hättet ihr denn in Justins Situation reagiert? Vielleicht Johnny Day höflich darum gebeten, die Kanone herauszurücken? Glaubt ihr im Ernst, er hätte das gemacht? Eher hätte er noch mehr Menschen umgebracht: den Parkdiener vor dem Barcelona, Restaurantgäste, die das Lokal verlassen, um nachzusehen, was draußen vorgeht, Polizisten. Der Abend hätte in einem Blutbad enden können.«

John schien nicht überzeugt. »Unwahrscheinlich. Justin hätte ihn problemlos entwaffnen können.«

»Schon möglich, aber hätte er sie dann bis zum Eintreffen der Polizei festgehalten, hätte er eine Menge Fragen beantworten müssen, zum Beispiel, wie er schneller sein konnte als eine abgefeuerte Kugel, oder warum seine Wunden von selbst heilten. Ich wäre tot gewesen und Sam Vollwaise. Aber nun bin ich hier, und Sam hat sein Zuhause; Warty will auf den Pfad der Tugend zurück, und wer weiß, vielleicht kommt ja auch Johnny Day zur Vernunft und knallt keinen mehr ab, nur weil er sich auf die Füße getreten fühlt.« Stella verschränkte die Arme und sah sich um. Alles Vampire, durch die Bank, manche von ihnen Jahrhunderte alt, trotzdem konnte ihr der ganze Haufen gestohlen bleiben!

»Nimm wieder Platz, Liebes. Ich glaube, du machst einige der Anwesenden nervös.«

Letzteres war lächerlich, aber der Gedankenkontakt mit Justin tat ihr gut und sie setzte sich.

»Ich liebe dich.«

»Ich weiß.«

Seine Worte hallten derart laut in ihrem aufgewühlten Kopf, dass sie die vollkommene Stille, die ihrem Plädoyer gefolgt war, zunächst gar nicht wahrnahm. Sie hörte ein Auto, das auf der City Park Avenue südwärts fuhr, und das Ticken der antiken Uhr auf dem Kaminsims, sonst jedoch keinen noch so schwachen Laut wie etwa Atem- oder Herzgeräusche der um sie herum Versammelten. Natürlich nicht! Es herrschte Grabesstille. Sie unterdrückte ein Lächeln. Das hätte möglicherweise einen falschen Eindruck gemacht. Stella sah Gwyltha in die Augen, drängte sie mit aller Macht zu einem Freispruch.

»War’s das?«, fragte Gwyltha.

»Ich glaube ja.« Vielleicht war’s das ja wirklich, in mehr als nur einer Hinsicht.

Aber Gwylthas Nicken wirkte eher neutral als feindselig. »Hat sonst noch jemand was dazu zu sagen?«

»Ja, ich.« Alles drehte sich um, als der eher kleine, verhärmt wirkende Vampir vortrat. Stella bemerkte erstmals seine verkrüppelten Finger. Wie Kits Auge vielleicht auch eine Verletzung von früher?

»Tom.« Gwyltha sprach ihn direkt an. »Ja?«

Das war also dieser Tom, den Justin bereits erwähnt hatte.

»Gwyltha, verehrte Kolonisten.« Tom nickte Gwyltha und allen Übrigen zu. So also sah die höfliche Art der Anrede unter Vampiren aus. Nun wusste sie Bescheid. »Ich werde Justin die Treue halten, wie auch immer ihr euch entscheidet. Er hat an meiner Verwandlung mitgewirkt. Ich kann unmöglich in einer Kolonie verbleiben, die meinen Mentor ausschließt.«

Ein Schreckensseufzer, wie er Vampiren gerade noch möglich war, machte die Runde.

»Du würdest uns ohne deine Kenntnisse sitzen lassen?«, platzte eine dunkelhaarige Frau geschockt hervor. Dann wandte sie sich an Gwyltha.

»Ich bin ebenso schockiert wie du, Antonia«, erwiderte Gwyltha.

»Ich würde euch nie im Stich lassen!«, blaffte Tom. »Wann hätte ich je einem Vampir meine Hilfe verweigert? Aber ich halte trotzdem zu Justin. Das steht fest.«

In der Stille war die Spannung förmlich greifbar. Stella spürte sie wie eine Brise auf ihrer Haut, bemerkte aber dann, dass es Justin war, der sie in seine Gedanken einhüllte. Was war da los?

»Sei jetzt ganz still«, flüsterte sein Bewusstsein ihr zu. »Lass die anderen reden.«

Sie fühlte sich so sicher, als sein Bewusstsein mit ihrem verschmolz, aber waren sie das wirklich?

»Alles klar. Dem ist wohl nichts hinzuzufügen, Tom.« Gwyltha wirkte ungehalten. »Hat sonst noch jemand vor, der Kolonie und ihren Gesetzen den Rücken zu kehren?«

»Gwyltha.« Kit trat vor. »Niemand trägt sich ernsthaft mit Trennungsgedanken, aber auch ich kann das Band mit dem Vampir, der mich erschaffen hat, nicht einfach zerschneiden.«

Dixie stellte sich neben Kit. »Ich bin auf Kits Seite.«

»Und ich auch.« Das war ein großer, schwarzer Vampir, der ihr bekannt vorkam. Hatte sie ihn schon mal im German Village gesehen?

In der gespenstischen Stille, die nun einsetzte, stellten sich noch zwei weitere Vampire auf die Seite Justins.

»Nein!« Justins Stimme durchbrach die angespannte Stille. »Toby, Kit, Dixie, Simon und Rod und ganz besonders Stella.« Er drückte ihr die Schulter. »Ich bin überwältigt angesichts eurer Unterstützung, aber wir müssen eine Spaltung der Kolonie verhindern. Ein Schisma würde uns zum Spielball fremder Mächte machen. Wenn ich gehen muss, gehe ich alleine.«

»Den Teufel wirst du tun!« Was als wortlose Mitteilung gedacht war, platzte laut heraus. Verdammt aber auch!

»Stella«, knurrte er.

Gwyltha stand auf und ging ein paar Schritte auf Stella zu. »Du würdest also die Kolonie verlassen, noch ehe du aufgenommen wurdest. Weißt du denn, was auf dich zukommen würde, als Frischlingsvampir alleine mit einem Kind?«

Stella erhob sich ebenfalls und stand nun Gwyltha direkt gegenüber. »Ich habe doch Sam und Justin und bin von daher nicht alleine, und Schwierigkeiten, na gut, die wird es sicher geben, aber als Sterbliche alleine ein Kind großzuziehen und dabei auch noch zu arbeiten, war auch nicht gerade ein Honigschlecken. Irgendwie werde ich es schaffen.«

»Daran habe ich keinen Zweifel, wenn du es müsstest.« Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Gwyltha sah zu Justin. »Wo hast du sie denn gefunden, Justin?«

»Stella hat mich gefunden, trat in mein Leben, als ich in Dixies Laden ausgeholfen habe.« Seine Hände hielten ihre Schultern umfasst, gaben ihr Halt, verbanden sie mit ihm. Was nun?

Gwyltha blickte in die Runde. »Wir müssen also, um Stella in unsere Reihen aufzunehmen, Justins Gesetzesverstoß übergehen.« Sie blickte wieder zu Stella und Justin, ein Lächeln auf den Lippen. »In meinen Augen ein Arrangement, zu dem man stehen kann.«

Es dauerte etliche Sekunden, bis Stella erkannte, was damit gemeint war. Erst Dixies Freudenschrei überzeugte sie wirklich. Justin war gerettet! Im nächsten Moment wirbelte er sie hoch und drückte sie so fest an sich, dass er jeder Sterblichen die Rippen gebrochen hätte. Sie zahlte es ihm in gleicher Münze zurück und küsste ihn. Dann ging er etwas zurück und grinste.

»Bei Abel! Du bist wunderbar! Womit hab ich dich bloß verdient?«

»Hast du ja gar nicht!«, sagte Gwyltha, als Justin Stella wieder absetzte.

Stella zuckte mit den Schultern. »Würde ich auch sagen. Aber er hat ein Händchen für Kinder«, schob sie mit einem Grinsen hinterher.

Danach artete das Tribunal zu einer wahren Quasselorgie aus. Stella wurde allen vorgestellt, vergaß aber prompt die Hälfte aller Namen sofort wieder. Allmählich herrschte Partystimmung in dem kleinen Häuschen, und Justin wurde, was niemanden überraschte, von allen anerkannt und gemocht. Offenbar hatten Vampire ebenso viel Gefühl wie körperliche Kräfte, und sie ratschten scheinbar gern. In kleinen Grüppchen hingen sie überall im Haus herum, palaverten lautstark. Es sah nach einer langen Nacht aus.

Plötzlich klingelte es, und Kit öffnete die Tür für einen Vampir, den Stella gleich wieder erkannte. Dixie hatte ihn Vlad genannt. »Störe ich?«, fragte er.

»Überhaupt nicht, Vlad, du kommst gerade zum richtigen Zeitpunkt.«

Kit trat einen Schritt zurück, als auch schon Gwyltha aus der Gruppe hervorkam.

»Komm rein, Vlad.« Sie streckte ihm die Hand entgegen, und Stella spürte das gemeinsame Band zwischen ihnen.

»Warum ist er so spät dran?«, funkte Stella an Justin.

»Er gehört nicht zur Kolonie«, erwiderte er. »Er ist Gwylthas Freund und Geliebter.«

In dem Moment kam Vlad auf sie zu. »Corvus, darf ich dir zu dem erfreulichen Ausgang des Tribunals gratulieren und …« Er lächelte Stella zu. »Meine Glückwünsche.«

»Meinen Dank, Vlad, für deine guten Wünsche.« Justin streckte die Hand aus. Der ganze Raum schien darauf zu warten, bis Vlad endlich nickte und Justin die Hand schüttelte.

»Weißt du eigentlich, was du da gerade gemacht hast?« Stella drehte sich zu Tom um. Irgendwie war sie von Justin getrennt worden.

Sie lächelte Tom zu. Das also war Kits engster Freund. »Was soll ich denn gemacht haben?«, fragte sie und blickte in die intelligenten Augen in seinem müden Gesicht.

»Du hast unsere furchtlose Führerin in die Knie gezwungen, eine Frau, die dich übrigens, wenn sie wollte, jederzeit durch diese dicken Mauern hindurchpusten könnte. Das lässt vermuten, dass sie dich mag. Das Erstaunlichste aber ist, ein griesgrämiger Brummbär wurde durch dich zu einem strahlenden Liebhaber.«

»Na, ich weiß ja nicht, ob das an mir liegt.«

Er warf den Kopf zurück und lachte laut. »Mach dir nichts vor, Stella. Alles liegt an dir. Mit dir hat Justin das große Los gezogen.« Er umarmte sie.

»Lass die Finger von meiner Frau!«

Stella grinste zu Justin hinauf. »Wer sagt denn, dass ich deine Frau bin?«

»Ich.« Er nahm ihre Hand. »Da anscheinend keiner gehen will, schlage ich vor, wir machen den Anfang.« Er nickte zu Tom. »Du bleibst ein paar Tage?«

»Ja. Dixie meinte, ich kann dein Bett haben.«

»Du kannst es behalten. Ich brauch es nicht mehr.«

Die Verabschiedung war eine Sache von Sekunden und schon liefen sie Hand in Hand durch den City Park. Justin hatte sich so gut wie selbst eingeladen, bei ihr einzuziehen, aber sie konnte nicht ablehnen. Nicht im Moment. Sie brauchte ihn an diesem Abend, so wie sie ihn brauchte, um mit den folgenden Wochen klarzukommen und mit einer Entscheidung, die sie im Herzen bereits getroffen hatte.